AF: …Ich habe in den frühen 1990ern damit begonnen, Kaukörper abzuformen. Kaugummiblasen sind oftmals sehr anfällig. So war bereits beim Blasen der Kaugummis auf verschiedene Einflüsse zu achten. Beispielsweise musste ich die Temperaturdifferenz zwischen Körper und Außen berücksichtigen und auch gegen den Wind blasen, um mit hohem Druck möglichst viel Material mit der Blase auszuatmen. Glücklicherweise verfüge ich als Trompetenspieler über eine Atemtechnik, die mir dieses sportliche Unternehmen ermöglichte. Zur weiteren Verarbeitung mussten die ca. zwei Faust großen Kaugummiblasen, die immer auch einen anatomisch sehr genauen Abdruck des fragmentarischen Gaumens zeigen, einen Test durchlaufen, der darin bestand, dass sie den Fall aus etwa 2 m Höhe schadlos überstehen. Mit diesem Test haben sich das Druckverhältnis zur Beschaffenheit der Membran als ausgeglichen und die Kaugummiblasen als Plastik bestätigt. Erstaunlicherweise erfüllten diesen Test viele der Kaugummiblasen, die mit der türkischen Kaumasse geblasen wurden.
Die Form wurde durch verschiedene Faktoren generiert. Entscheidend war das Verhältnis zwischen den gegensätzlichen Eigenschaften, nämlich der Komprimierung des Atems und der Dehnbarkeit der Kaumasse. Temperaturunterschiede wirkten auf den Schmelzvorgang der Kaumasse, der Atemdruck dynamisch auf die Formwerdung. Atem, komprimiert, eine Arbeit aus dem Jahr 1999, zeigt eine solche Kaugummiblase, die röntgenfotografisch aufgenommen wurde (siehe oben: Atem, komprimiert). Deutlich lassen sich die unterschiedlichen Materialdichten der Membran als Resultat eines Ausatmens erkennen, das sich als Spur der Dringlichkeit und der zunehmenden Verdinglichung ausdrückt. Mit dem Licht expandiert das Beatmete und dehnt die Opazität der gebissenen Masse aus. Es ist eine Art Exstase der Kaumasse, die das Beatmete mit den Eigenschaften weich, prall, geprägt versieht und sich bereits als vorübergehende Form ankündigt, deren Platzen – plopp – später synästhetisch erfahrbar wird.
Das Röntgen ist ein bildgebendes Verfahren, das mit einem konventionellen Schwarz-Weiß-Film operiert. Energiereiche Wellen werden im Vakuum der Kathodenstrahlröhre erzeugt, durchdringen das dar- zustellende Gewebe und den Film in der Kassette, bevor sie auf dort angebrachte Folien treffen. Die energiereichen Wellen regen diese fluoreszierenden Folien (siehe: https://www.radiologie.de/untersuchungsmethoden-im-uberblick/konventionelles-rontgen/grundlagen-und-technik/) an und erzeugen ein mehr oder weniger starkes Nachleuchten, das den Film belichtet.
Hohe Dichten zeichnen hell. Niedrige Dichten, wie etwa Luftkammern, werden verschattet dargestellt. So interpretiert das medizinische Auge die Röntgenbilder entgegen der Erfahrung des klassischen Lineamentes, das den menschlichen Körper durch verschattendes Schraffieren plastisch zur Darstellung bringt. Atem, komprimiert wurde mit einer sehr geringen Dosis Millisievert durchschossen. Das Beatmete stellt sich als durchgezeichnetes Gebiet und dinglich erschlossenes Material dar. Es scheint kein bildliches Leck preiszugeben. Das bestätigt die Anwesenheit einer Inspiration, auch wenn sie durch ein atemloses Bildverfahren visualisiert wurde. Das Binnenlicht weckt den Ein- druck einer Petrifizierung oder pneumatischen Verknöcherung und doch scheint das Beatmete mit einem geringen Auftrieb zu schweben. Begünstigt wird dieser Eindruck durch das Raster von Linien und Kerben, die der maschinelle Transport durch die Entwicklungsstraße hinterlassen hat und dessen Laufrichtung nun die Vertikale des Bildes bestimmt.
Atem, komprimiert stellt den menschlichen Körper als leiblichen Prozess des Sich-Befindens dar. Dabei wird das Ausatmen bewusst stark durch seine Komprimierung mit der zähen Ausdehnung der Kau- masse verzögert. Dringlichkeit und Drängen vereinen sich in dem kraftvollen und doch so fragilen Prozess der Selbstbeschreibung einer sich ankündigenden Atemlosigkeit. Das Verhältnis zwischen Komprimierung und Ausdehnung charakterisiert den Schauplatz als pneumatisches, aber auch pulmologisch aufeinander wirkendes System von Atmosphäre, Stofflichkeit und Leib. Es ist nicht von ungefähr, dass sich Atem, komprimiert nicht nur metaphorisch dem Spannungsverhältnis von Leere und Fülle assoziiert, sondern auch Medien einsetzt, die das Vakuum wie auch die atmosphärische Bewegung faktisch nutzen.
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Binnenlicht das bildgebende Medium des Atems als formgebendes Material bestätigt. Betrachtet man die Blase vom Standpunkt ihrer Entstehung, ist sie ein durch den Atem ersetzter und ins Äußere ausgedehnter Abdruck der Zunge. Darauf folgt eine ganz eigenartige und verzögerte Laut- und Sprecherzeugung – das Ploppen beim Platzen der Membran. Atem, komprimiert war mir eine gute Vorbereitung für das Glasblasen.
Meine anfänglichen Arbeiten übersetzten den Kaugummi durch die Wahl eines Kunststoffes in eine herkömmliche Plastik. Die Entkernung der Kaugummiblase während des Atmens hat für mich ein neues Bewusstsein über die klassischen Dichotomien in der Plastik geschaf- fen, über Innen/Außen, Leere/Fülle usw. Der wortwörtlich zentrale wie auch formtreibende Bestandteil der Plastik, nämlich der Atem, war einem Raumverständnis gewichen, das zwar Beständigkeit erzeugt, deren Sta- tik allerdings Prozesse unterbricht und Grenzen zieht. Dem schließt sich auch mein Interesse für all die Materialien an, die aufgrund ihrer thermischen, also atmenden Qualität mehr und mehr von Architektur und Design wahrgenommen (und als aktiv beschrieben) werden…
In: Atem. Gestalterische, ökologische und soziale Dimension, Hrsg.: Linn Burchert, Iva Reštar, Der Hauch einer Ahnung. Atem als formgebendes Material, Friedrich Weltzien & Anselmo Fox im Gespräch, S. 153 – 158, Walter de Gruyter Berlin / Boston 2021, Link