Kuss, extrahiert

…In der Regel gilt: wenn man den Kuss sieht, fühlt man ihn nicht; wenn man ihn fühlt, so sieht man ihn nicht. […] man deutlich zweigliedriges, ja zweiflügliges, doch unregelmäßiges, irgendwie befremdendes, buchtiges, gebuckeltes Formgebilde vor Augen, überaus präzise mit witzigsten Poren, Faltungen, Gaumenriffelungen, Zahnnegativen, Lippenfältchen versehen. Kopf und Körper der Küssenden sind absent; körperlich präsent ist das Negativ ihrer beider Mundräume. Nie war ein Kuss näher und ferner zugleich. Uneinfühlbar, fremdartig, unerotisch, kalt, auch abstoßend und doch auf seltsame Art Neugier erregend, faszinierend: man wiegt das Mundinnere zweier Menschen in der Hand, wendet es hin und her, sieht durch den Hohlraum der Zunge, durch das Loch hindurch in eine andere Zunge hinein – und erinnert sich an das „Widrige“, über das Lessing anlässlich geöffneter Münder spricht. Hier sind wir im Mund.

Hartmut Böhme in Erkundungen der Mundhöhle – Zur Kunst von Anselmo Fox, S. 20, Neue Ästhetik. München 2002, Link

Kuss, extrahiert I, 2008, (1996 – heute), lebensgross, Aluminiumblatt auf Gips
Foto: Anselmo Fox
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