Von innen (für Anselmo)
Zu den Evidenzen moderner Subjektivität zählt die strikte Trennung zwischen Innerem und Äußerem. Dieser Trennung korrespondiert die zunehmend schärfere Abgrenzung von privaten und öffentlichen Räumen: Türen und Schlösser markieren eine Differenz, die längst schon in die Selbstkonzepte der Individuen übernommen wurde. »Cocooning« heißt beispielsweise eine aktuelle Lebensform, die sich genauso als ein (elektronisch unterstütztes Modell des Wohnens wie als eine Psychotechnik interpretieren läßt: ich ziehe mich zurück in den Salon meines Bewußtseins, um von einer diffusaggressiven Außenwelt nicht mehr erreicht werden zu können. Freilich bleibt auch dann eine Schwelle, die nicht versiegelt werden kann ‑ es sei denn um den Preis des Todes: nämlich der Mund. Im Sinne der Analogie zwischen Privatraum und Selbst repräsentiert der Mund die unverschließbare Tür; sie öffnet sich unentwegt für die Atemluft, sie öffnet sich zumindest mehrmals am Tag für Nahrung und Trank, und sie öffnet sich mit jeder Silbe und jedem Satz, vielleicht auch mit den Gesprächen, die ich einzig und allein mit mir selbst führe. Der Mund bildet die überdeterminierte Zone, die den Traum vom »horno clausus « permanent widerlegt ‑ mit jedem Atemzug, jedem Bissen und Schluck, jedem Wort; er begleitet und ermöglicht alle Kontakte: vom Gruß bis zum zärtlichen Kuß, in dem gleichsam die Innenrätune ineinander verfließen.
Gewiß sind Rufe oder Küsse ‑ von Seurats‑»Eco« (1883) bis Munchs »Schrei« (1893) oder Gustav Klimts »Der Kuß« (1908) ‑ schon häufig dargestellt worden. Doch soweit ich sehen kann, hat sich noch kein Künstler dem Mund von innen genähert. Erst Anselmo Fox versucht seit mehreren Jahren, die rätselhafte Schwelle zwischen Selbst und Welt aus einer geradezu unmöglichen Perspektive zu erkunden, indem er die Hohlräume, die von jedem Biß, Schrei oder Kuß geöfffnet und wieder verschlossen werden, abformt und auf vielfältige Weise modelliert. Als »Objekte« und mysteriöse Artefakte, ja sogar als Röntgenbilder werden Formen präsentiert, die durch Ihren Reichtum überraschen; sie erinnern entfernt an exotische Blumen oder seltsam geformte Steine (wie sie manchmal auf Spaziergängen entdeckt und mitgenommen werden). Und doch erscheint das umgestülpte Innere nicht nur ästhetisch reizvoll, sondern auch beunruhigend fremd ‑ im Sinne von Freuds Analyse des »Unheimlichen«, das stets auch das Heimliche, das Nächstliegende, das Geheimnis der letzten »Heimat« im eigenen Körper, auszudrücken vermag.
Während wir uns nur »von innen« kennen, sehen wir uns nur von »außen«. An einer Schlüsselstelle des Films »Deadringers« von David Cronenberg sagt der Gynäkologe zu einer Schauspielerin mit einer seltenen Mißbildung der Gebärmutter: Ich habe oft gedacht, es sollte auch für das Körperinnere Schönheitswettbewerbe geben ‑ die beste Milz, die perfektesten Nieren. Wieso haben wir keine Maßstäbe für die Schönheit des inneren menschlichen Körpers ? Die Frage findet im Film bekanntlich eine erschreckende Antwort. Dennoch ist sie legitim: könnte ihr Ernst besser bezeugt werden als durch die Plastiken und Bilder des Künstlers Anselmo Fox ?
Thomas Macho Berlin, 9. Mai 2000